reifen
By Jan Wagner
dort, wo die stadt versickert,
beim bahndamm, jenseits der in ihrer pracht
erstarrten, riesigen zikade
des umspannwerkes, siehst du sie: gebraucht,
getürmt, ein ganzes feld, gezackt
oder gewellt die maserung in jedem bauch
und dunkler als sämtliche rembrandts
zusammen: gummiakropolis,
heiligtum des banalen—im herbst berennt es
der sturm, erduldet es die peitschen des graupels,
nun surrt insektenstille, julitransparenz.
der löwenzahn mit seinen angorapullis,
die schafgarbe am zaun und an den gräsern
zecken, ganz auf ihre borrelio-
se konzentriert; hoch auf dem thron vergessen
die götter dunlop, goodyear, pirelli
fern von der glorreichen bremsspur, den abgasen,
fortschrittsschlacke. eine parallel-
welt, die dich machtvoll anzieht, in beschlag nimmt,
am maschendraht gepreßt dein kindsgesicht,
da es im innern flüstert oder summt:
„ich werde wachsen, kälter werden, dichter,
von tieferem schwarz, bis nichts mir mehr entkommt,
kein stern, kein staubkorn, nicht einmal das licht.“
Notes:
“reifen” is reprinted with permission of Hanser Berlin. Jan Wagner, Steine & Erden. © 2023 Hanser Berlin in der Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG, München.
Read the English-language translation, “tires,” and the translator’s note, both by David Keplinger.
Source:
Poetry
(April 2024)